50.000 Fahrerbetten fehlen in Deutschland

Die vor einem Jahr von der EU-Kommission vorgeschlagene Vorgabe, dass LKW-Fahrer ihre wöchentlichen Ruhezeiten von mindestens 45 Stunden nicht mehr in der Fahrerkabine verbringen dürfen, sondern in einer geeigneten Unterkunft, ist Gegenstand einer heftigen Kontroverse zwischen der EU-Kommission und Vertretern der internationalen LKW-Transportwirtschaft geworden: Denn sie betrifft vor allem die europaweiten Ladungsverkehre.

Eine vollständige Umsetzung hat dramatische Konsequenzen nicht nur für Transportunternehmen, sondern auch für die verladende Wirtschaft in ganz Europa sowie für Kommunen und Aufsichtsbehörden. Denn dann müssen für mehrere Hunderttausend Schwer-LKW, die sich auf den europäischen Fernstraßen bewegen, in jeder Woche für jeweils zwei Tage neue Parkmöglichkeiten für die Lastzüge sowie geeignete Schlafmöglichkeiten in Hotels oder hotelähnlichen Unterkünften für deren Fahrer gefunden werden. Bisher verbringen diese Fahrer ihre vorgeschriebene verlängerte wöchentliche Ruheperiode fast ausschließlich in ihren Schlafkabinen. Sie stehen dafür an den Parkplätzen und Raststätten entlang der Autobahnen oder im Umfeld der Industriestandorte und Logistikzentren, wo sie nach Abschluss ihrer Ruhezeit Ladung zu ent- oder zu beladen haben.

Mit der Maßnahme will die Kommission die Verkehrsrisiken durch übermüdete Fernfahrer reduzieren. Gleichzeitig sollen Arbeits-, Lebensqualitäts- und Wettbewerbsbedingungen des Fahrereinsatzes zwischen den EU-Ländern harmonisiert werden.

Viele Unternehmen des Straßengüterverkehrs (und deren Repräsentanten) indes stellen die Praktikabilität dieser Verordnung infrage. Sie warnen vor unerwünschten und kontraproduktiven Folgewirkungen: neue Belastungen der Infrastruktur oder neue Sicherheits- und Umweltprobleme. Zudem ziehe die neue Vorschrift signifikante negative Auswirkungen auf die Funktionsfähigkeit der europäischen Logistiksysteme und die Wettbewerbsfähigkeit ganzer Branchen und Regionen nach sich – und negative Auswirkungen auf die Arbeits- und Lebensqualität der betroffenen Fahrer.

Die quantitative Dimension

Jeden Tag halten sich circa 150.000 bis 160.000 ausländische Schwer-LKW in Deutschland auf – fahrend, be- und entladend, wartend und ruhend. Ihre Fahrleistung auf den deutschen Autobahnen überschreitet 14 Mrd. km pro Jahr, das sind 56 Mio. km pro Werktag und 360 km pro LKW/Werktag. Damit erzielen ausländische LKW in Deutschland schätzungsweise 14 Mrd. EUR – 40 Prozent des Umsatzes im Schwerlastverkehr in Deutschland. Diese Zahlen entsprechen etwa 20 bis 25 Prozent des gesamteuropäischen Marktes.

Etwa die Hälfte der 150.000 bis 160.000 ausländischen Fahrer, die sich täglich in Deutschland aufhalten, ist länger als eine Schichtzeit im Land und muss deshalb die vorgeschriebenen Ruhezeiten hier einlegen. Die tägliche Neun-Stunden-Pause darf in den Schlafkabinen verbracht werden – also auf den Parkplätzen entlang der Autobahnen oder im Bereich der industriellen Be- und Entladestellen.

Der Gesamtbedarf für die entsprechenden Parkplätze dürfte um 50 Prozent über den 75.000 bis 80.000 ausländischen Fahrzeugen liegen, denn auch ein Teil der deutschen Fernfahrer verbringt seine Ruhezeiten auf der Strecke – macht 110.000 bis 120.000 Stellplätze. Derzeit parken nach einem Untersuchungsergebnis des BMVI etwa 70.000 deutsche und ausländische LKW pro Nacht auf den (zumeist überfüllten) Parkplätzen entlang der deutschen Autobahnen. Weitere 30.000 bis 40.000 suchen sich Standplätze für die tägliche Ruhezeit in der Nähe der industriellen Be- und Entladestationen oder an eigentlich ungeeigneten Plätzen entlang ländlicher Straßen und in Wohngebieten.

Etwa 30 Prozent der ausländischen Fahrer in Deutschland, also rund 50.000, verbringen aber einmal in der Woche auch die verlängerte Ruhezeit von mindestens 45 Stunden in Deutschland. Damit entsteht Bedarf für geschätzt mindestens 50.000 Fahrer, die ihre verlängerte wöchentliche Ruhezeit außerhalb ihrer LKW-Kabinen verbringen sollen. Da dies in der Regel am Wochenende anfällt, müssen als Folge der neuen Vorschriften entsprechend viele „angemessene“ Fahrerschlafgelegenheiten außerhalb der LKW und entsprechende Parkmöglichkeiten für die LKW gefunden oder geschaffen werden.

Die Realität

Kapazitäten dafür, die den EU-Anforderungen entsprechen, sind derzeit kaum vorhanden – weder entlang der Autobahnen noch im Bereich der bisher genutzten industriellen Stationen. Zwar hat Deutschland in 44.000 Hotels und Pensionen etwa 1,1 Mio. Gästebetten (die zu einem durchschnittlichen Preis von 90 EUR/Nacht verfügbar sind), doch weniger als 1 Prozent davon dürften für LKW überhaupt anfahrbar sein und über die notwendigen legalen und sicheren Parkmöglichkeiten verfügen.

Eine realistische Perspektive, dass die notwendigen geeigneten mindestens 50.000 Übernachtungsmöglichkeiten entstehen könnten, ist nicht zu erkennen. Folglich hält die Transportwirtschaft die neuen Ruhezeitvorschriften nicht für praktikabel.

Die internationalen Straßentransportunternehmen haben daher drei prinzipielle Optionen, um auf die neuen Ruhezeitvorschriften zu reagieren und ihnen gerecht zu werden.

1. Investoren und kapitalkräftige Unternehmen der Straßentransportwirtschaft könnten eigene Netze von LKW-Park- und Schlafstationen aufbauen. Es gibt einige wenige Beispiele von großen Speditionen, die an Brennpunkten ihrer Aktivitäten solche Stationen aufgebaut haben oder planen. Doch selbst unter sehr optimistischen Annahmen werden das Finden geeigneter Grundstücke sowie die Finanzierung und Unterhaltung eines genügend dichten Netzwerks von Stationen eine sehr langfristige, wenn überhaupt lösbare Aufgabe sein.

2. Transportunternehmen könnten ihre Betriebskonzepte vor allem in Richtung Begegnungsverkehre verändern, ein System, das große Transportunternehmen, die entlang regelmäßig befahrener Routen mit stabilen Transportaufkommen tätig sind, schon heute nutzen. Entlang dieser Routen sind Fahrerbasen und Wechselstationen angeordnet, so dass ein Fahrer jeweils nur einen Streckenabschnitt innerhalb seiner zulässigen Tagesschichtzeit absolviert, sich dabei mit einem entgegenkommenden Fahrzeug trifft und unmittelbar an seine Basis zurückkehrt. Lange Transportrouten werden also in Segmente aufgeteilt. Diese Option ist aber nur unter engen Bedingungen realisierbar. Wegen der zwangsläufigen Starrheit der Einsatz- und Fahrpläne für Begegnungsverkehre erlauben sie kaum Anpassungen an wechselnde Güteraufkommen und Streckenführungen.

3. Zudem könnten Transportunternehmen ihre Fahrzeuge und Fahrer so disponieren, dass sie nach spätestens zwei Einsatzwochen zurück an ihrem Heimatort sind. Dann entfällt die Notwendigkeit für die verlängerten 45-Stunden-Wochenruhezeiten auf der Strecke. Das bedeutet allerdings, dass unabhängig von der Verfügbarkeit von Rückladungen oder Anschlussaufträgen für die in Europa „trampenden“ LKW ein Zwang zu kurzfristigen Rückfahrten an die jeweiligen Heimatorte entsteht. Damit aber wird die Möglichkeit, auf strukturelle Unpaarigkeiten und Fluktuationen der Güterströme zu reagieren, drastisch beschnitten.

Die fortgesetzte Verbringung der verlängerten Wochenruhezeiten in den Schlafkabinen ist die faktische vierte Option, aber für keinen der beteiligten Akteure eine wünschbare, nicht legale Lösung.

Die ökonomische Dimension

Was bedeuten die skizzierten legalen Optionen bezüglich der Wirtschaftlichkeit des weiträumigen europäischen LKW-Transports und was sind darüber hinausreichende ökonomische Konsequenzen? Auf der Basis der heutigen weiträumigen europäischen LKW-Transporte verursachen die Hotelübernachtungen Mehrkosten allein in Deutschland von circa 300 Mio. EUR pro Jahr – europaweit dürften es über 1 Mrd. EUR sein. Hinzu kommen Mehrkosten für die Versicherung der Schadens- und Diebstahlrisiken unbegleitet abgestellter LKW, eventuelle Parkgebühren und Umwegkosten. Dies würde zu einem Kostenanstieg von 1 bis 2 Prozent für weiträumige LKW-Transporte führen, wie ihn – vermutlich – die EU-Kommission unterstellt hat. Aber: Diese Option ist wegen der fehlenden LKW-Park- und Schlafplätze nur theoretischer Natur – auch weil von eigenen Netzen für Fahrerübernachtungen oder neuen Betriebskonzepten nur eine sehr geringe Entlastungswirkung zu erwarten ist.

Werden indes die Fahrer künftig so disponiert, dass sie die verlängerten Wochenruhezeiten in ihrem Heimatort verbringen können, ergeben sich nach Einschätzungen großer Flottenbetreiber Kostensteigerungen von 20 Prozent und mehr. Um die gleichen Transportleistungen erbringen zu können wie bisher, werden mehr Fahrer und Fahrzeuge benötigt, durch die Heimfahrtintervalle gleichzeitig die Leerfahrtenanteile steigen und die Auslastung sinken.

Preissteigerungen in dieser Größenordnung werden heikle sekundäre Effekte nach sich ziehen: So werden große Auftraggeber, insbesondere Verlader besonders kostensensibler Konsumgüter- und Industrieprodukte, ihre Versorgungsketten umgestalten, die auf Basis der europäischen Integration aufgebaut wurden. So gelangen große Mengen an Obst und Gemüse von der Iberischen Halbinsel und aus Südosteuropa per LKW in die konsumstarken Regionen Mitteleuropas.

Entsprechendes gilt für niedrigpreisige und an „verlängerten Werkbänken“ in Ländern Ost- und Südeuropas bearbeitete Industrieprodukte. Solche Kostensteigerungen für Transport könnten für wichtige Industrien der prekären EU-Wirtschaftsregionen das Ende ihrer Wettbewerbsfähigkeit im europäischen Markt bedeuten. Dabei ist gerade die wirtschaftliche Entwicklung und Wohlstandssteigerung dieser Länder ein zentrales Anliegen der EU.

Weitere Wirkungen betreffen die Struktur der europäischen Transportwirtschaft: Die neuen Vorschriften werden die Konzentrationstendenzen beschleunigen. Denn die oben aufgezeigten legalen Handlungsoptionen zur Anpassung an die neuen EU-Vorschriften sind – wenn überhaupt – nur von den sehr aufkommens- und kapitalstarken größten LKW-Transportunternehmen zu bewältigen.

Folgen für Umwelt und Sicherheit …

In der Transportwirtschaft ist es so, dass sich ökonomische Veränderungen fast immer direkt auf Umwelt und Sicherheit auswirken. Nimmt der aktuelle durchschnittliche Anteil von Leerkilometerfahrten im Fernverkehr von derzeit 23 Prozent (EU-Statistik 2017) nur um einen Prozentpunkt zu, weil die LKW-Betreiber gezwungen werden, ihre Flotten und Fahrer in kürzeren Intervallen an die Heimatsstandorte zurückkehren zu lassen, dann bedeutet das ein Mehraufkommen von 600 Mio. Leerkilometern pro Jahr – oder zusätzlichen 180 Mio. l Diesel.

Die derzeitige im europäischen Ladungsverkehr tätige Fernverkehrsflotte von circa 500.000 Einheiten muss für jeden zusätzlichen Prozentpunkt an Leerfahrten um 5.000 Einheiten vergrößert werden, damit die Transportkapazität gleich bleibt. Durch die zunehmende LKW-Dichte auf den Autobahnen steigt das Unfallrisiko. Dies wiederum müsste gegen den von der EU erhofften Rückgang von LKW-Unfällen aufgrund strikterer Ruhezeitenregelungen abgewogen werden.

… und Arbeits- und Lebensqualität

Kontrovers diskutiert wird auch über die Auswirkungen einer verschärften Regelung auf die Arbeits- und Lebensqualität der internationalen LKW-Fahrer. Die Kommission unterstellt, dass die Verordnung eine eindeutige qualitative Verbesserung bedeutet, weil sie für ausgedehnte Wochenruhezeiten außerhalb der Kabine und kürzere Heimkehrintervalle sorgt.

Die Transportbranche sieht komplexere Folgen: Viele der international tätigen Fahrer sind in ost- und südwesteuropäischen Ländern wie Portugal und Spanien zu Hause. Die aktuellen Fahrerlöhne sind dort relativ niedrig, die hohen Spesensätze machen 50 bis 70 Prozent des Bareinkommens dieser Fahrer aus. Die von den neuen EU-Regeln ausgelösten Veränderungen wie Begegnungsverkehre oder verkürzte Heimkehrintervalle werden die Spesenvergütungen dieser Fahrer reduzieren, die bisher kaum vergleichbare Einkommensalternativen in ihren Ländern haben.

Schließlich stellen Praktiker infrage, ob das Verbot der Verbringung von Wochenruhezeiten in den Kabinen tatsächlich die Zahl der Unfälle durch Müdigkeit verringert, wenn diese mindestens 45 Stunden langen Aufenthalte getrennt vom Fahrzeug, also in separaten Unterkünften, aber fern der Heimatorte, stattfinden werden. Dadurch könnten neue Unterhaltungs- und Ablenkungsmöglichkeiten für die Fahrer entstehen, die nicht zwingend zu einem ausgeruhten Zustand für die folgende Arbeitsschicht führen müssen.

Schnelle Lösungen nicht in Sicht

Vorläufiges Fazit: Die Bilanz der Argumente für und gegen die neuen Ruhezeitenvorschriften der EU-Kommission ist komplex. Einfache, schnelle Lösungen, um die unbestrittenen Ziele, LKW-Unfälle zu verringern sowie die Arbeits- und Lebenssituation der europäischen Fernfahrer zu verbessern und zu harmonisieren, sind nicht in Sicht. Und die Risiken kontraproduktiver Folgen für die Leistungsfähigkeit der europäischen Straßentransportsysteme, für Abkopplung statt mehr Integration der an den Außengrenzen Europas liegenden Partnerländer, sind real.

Eine blinde Durchsetzung der neuen Regularien, ohne den Mangel an angemessenen Unterbringungsmöglichkeiten für die Fahrer zu berücksichtigen und ohne geeignete Optionen für große Teile der LKW-Transportwirtschaft, ist nicht zielführend. Notwendig ist vielmehr eine sorgfältigere Analyse, wie die neuen Regularien auf die verladende Wirtschaft und besonders betroffene Wirtschaftszweige in den europäischen Entwicklungsregionen wirken.

Es ist vor allem notwendig, auf wirklich repräsentativer Basis die Meinung von betroffenen Fahrern zu den Maßnahmen einzuholen. Zudem müssen die sekundären ökonomischen Konsequenzen durch Einbeziehung großer internationaler Verlader durchleuchtet werden. Bisher von der Kommission initiierte Anhörungen haben diesem Anspruch nicht genügt.

Zumindest als Übergangslösung, bis vielleicht doch einmal stark erweiterte intermodale Transportkapazitäten und neue Infrastrukturen Entlastung bringen, sollte die etablierte Praxis nicht kriminalisiert werden. Bis dahin sollten praxisgerechte Anpassungen der neuen Regularien erfolgen, wie zum Beispiel die Genehmigung von drei aufeinander folgenden verkürzten Wochenruhezeiten in der LKW-Kabine, gefolgt von einer entsprechender Verlängerung der monatlichen Ruhezeiten am Heimatort. (la)

Der EU-Vorschlag

Vor einem Jahr hat die EU Kommission einen Vorschlag zur Verschärfung der seit 2006 gültigen Vorschriften veröffentlicht, die die Ruhezeiten von LKW-Fahrern betreffen (Regulation [EC] No 561/2066). Ein Element dieser Vorschrift, das besonders die LKW-Transportunternehmen im weiträumigen europäischen Ladungsverkehr und deren Fahrer betrifft, ist Gegenstand einer Kontroverse zwischen der EU Kommission und Vertretern der internationalen LKWTransportwirtschaft geworden: „In Artikel 8 Absatz 8 wird ein Buchstabe a angefügt, um zu verdeutlichen, dass ein Kraftfahrer eine wöchentliche Ruhezeit von 45 Stunden oder mehr nicht in einem Fahrzeug verbringen darf und dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, dem Kraftfahrer eine geeignete Unterkunft mit angemessenen Schlafgelegenheiten und sanitären Einrichtungen bereitzustellen, wenn die Kraftfahrer nicht in der Lage sind, eine wöchentliche Ruhezeit in einem Ort ihrer Wahl zu nehmen.

Quelle dieses Artikels klick hier : Deutsche  Verkehrs Zeitung